Frau Holle und die Flachsdiesse
nach Josef Lukas'
Zu Clausthal wohnten einst zwei Mädchen, die hatten nicht Vater noch Mutter und mussten sich deshalb von ihrer Hände Arbeit nähren. Das einzige, womit sie sich noch etwas verdienen konnten, war Spinnen. Das eine Mädchen sponn recht fleißig; das andere aber schwatzte viel und brachte damit viel zeit hin, und des Abends fing sie gleich an zu nicken und zu schlafen. Daher hatte denn das fleißige Mädchen so recht seine Not mit der faulen Schwester. Nun kam Ostern ins Land, und am Abend vor dem Feste flammten die Osterfeuer auf allen Höhen rings um die Stadt. Da konnte es die Faule nichtim Hause aushalten, sie musste hinaus, um die Osterfeuer zu sehen und Kurzweil zutreiben. Die Fleißige Liese aber saß am Spinnrade und spann; denn sie wollte ihre Diesse vor dem Feste ganz leer haben. Eben schlug es elf, da ging die Tür auf und herein trat eine schöne Frau, die trug ein weisses seidenes Kleid, hatte lange, goldgelbe Haare, und in der Hand hielt sie eine Flachsdiessem so weiß wie Silber und so fein wie Seide. Mit freundlicher Stimme grüßte sie das gute Mädchen, das eben seinen letzten Flachs als Faden auf die Rolle laufen ließ, befühlte das Garn und sprach:
"Fleißige Liese,
Leer ist die Diesse,
Fein ist der Faden,
Bist wohl beraten."
Dann berührte sie das Spinnra mit ihrer goldenen Diesse, lächelte freundlich und verschwand. Und wer war das? - Es war die Frau Holle.
Die fleißige Liese ging bald darauf ins Bett. Ihre Schwester kam später zu Haus und legte sich auch hin. Als nun die beiden Mädchen am Ostermorgen aufstanden, da stand statt des hölzernen Spinnrades ein goldenes da, das funkelte und glitzerte ganz prächtig, und das Garn, das die Liese gesponnen hatte, war so fein und weiß wie Seide. Und als sie dann erst an das Abhaspeln ging, da wollte das Garn auf der Rolle kein Ende nehmen; sie moche noch so viel abhaspeln, die Rolle blieb voll. Das war eine Freude für die Liese! Als aber die Faule nach ihrem Spinnrad sah, da fand sie zu ihrem Schrecken statt des Flaches Stroh auf der Diesse. Und in ihren Kästen lag, statt der Leinwand, die sie darin aufbewahrte, nichts als Häcksel. Darum spricht man noch jetzt: am heiligen Abend vor Ostern, muss die Diesse leer sein, sonst kommt die Frau Holle und bringt den Häckerling.